Die letzten zwei Jahre mit zwei Teenagern waren recht spannend, ich habe so unglaublich viel gelernt. Über meine Kinder, aber viel mehr über mich. Eigentlich wollte ich einen Artikel schreiben, in dem ich reine Aufklärungsarbeit leiste, doch das war mir für einen Sonntagnachmittag dann doch zu anstrengend. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich so vieles selbst noch nicht so richtig verstanden habe. Denn die Sache ist unglaublich komplex. Ihr wisst nicht, wovon ich spreche? Einen kleinen Moment Geduld bitte, ich bekomme gerade eine Nachricht von meiner Freundin Irène, die sich im Januar ihr Genick gebrochen hat. Ja. Genick. Gebrochen.
Und nein, man stirbt nicht gleich, wie man vielleicht vermuten würde. Aber man könnte. Das macht die Sache so heikel. Wie nur konnte das passieren? War sie waghalsig, höhö, unterwegs? Vielleicht Bungee-Jumping? Vielleicht ist sie auch vom Dreier gesprungen und ist unglücklich im Wasser gelandet? Nein. Alles nicht. Sie ist einfach aus dem Bett gekullert. Ja, richtig gelesen.
Was haben Menschen doch eine enorme Angst, ihr Leben zu leben! Angst vor allem eigentlich. Angst, dass das Toilettenpapier ausgehen könnte (anyone die letzten zwei Jahre?), Angst davor, gesehen oder nicht gesehen zu werden, Angst davor, keinen Sex mehr zu haben, Angst, zu alt für die Liebe zu sein oder einfach auch die Angst, jemand könnte bemerken, dass man doch nicht so perfekt ist, wie man vorgibt. Angst. Überall.
Aber aus dem Bett zu trudeln und das Genick zu brechen, davor hat niemand Angst. Das Leben kann uns jeden Augenblick einen Strich durch die Rechnung machen. Und plötzlich werden die kleinen Dinge im Leben wieder so wertgeschätzt, weil man einfach nur froh ist, noch am Leben zu sein.
Kümmert euch nicht um das, was die anderen von euch halten
Etwas, was ich meinen Kindern immer mitgegeben habe: Lebt euer Leben. Liebt, wen ihr wollt. Seid, wer ihr sein möchtet. Kümmert euch nicht um das, was die anderen von euch halten. Und das haben sie auch hervorragend umgesetzt. Meinen Kindern kann niemand etwas vormachen. Sie sind so unglaublich klug, ich lerne jeden Tag von ihnen. Heute habe ich mit meinem Sohn über Wasserverbrauch diskutiert. Er meinte, dass es wirklich essenziell und dringend sei, den Wasserverbrauch zu reduzieren, denn die Welt sei klimatechnisch sowieso schon am Arsch, und wir müssen jetzt handeln. Immer wieder gut, daran erinnert zu werden. Er hatte dann noch sämtliche Fakten parat, an die ich mich leider nicht mehr so gut erinnern kann.
Ein weiterer wichtiger Punkt und da komme ich auch zurück zum Thema, ist bei uns Diversität. Und da habe ich so viel zu lernen. Man denkt immer, man weiß schon alles, hat alles gesehen und plötzlich öffnet sich da eine komplett neue Welt. Meine beiden Kinder sind queer. Ich werde jeden Tag daran erinnert, dass ich alt bin und nicht wirklich aufgeklärt.
Queer steht für das Q in LGBTQIA+ und ist eine Selbstbezeichnung für Personen, die nicht heterosexuell und/oder cis geschlechtlich sind. Aber darüber werde ich noch ausführlicher und differenzierter schreiben, denn all das ist sehr, sehr komplex.
Es gibt viel zu lernen
Neulich zum Beispiel sprachen sie davon, mit all ihren Freunden zur Pride Parade in Berlin zu gehen und ich meinte, “oh, wie toll, da komme ich mit”, weil ich ach so offen, meine Unterstützung zeigen wollte. Meine Tochter rollte mit den Augen und meinte “You are way too uneducated” (meine Kinder sprechen Dänisch oder Englisch, besonders, wenn sie sich ausdrücken möchten).
Und das stimmt. Auch wenn ich dachte, ich hätte voll den Durchblick, da ist deutlich Luft nach oben. Ich lerne. Und empfinde es als großartig, in welch spannende Persönlichkeiten meine Kinder sich entwickeln. Ich finde, dass deutlich zu wenig darüber gesprochen und aufgeklärt wird, wenn Kinder bemerken, dass sie sich anders fühlen. Gerade die Pubertät kann da sehr intensiv sein, weil auch Verwirrung in ihnen entstehen kann. Wenn die Kinder keine offenen Eltern haben, die halbwegs aufgeklärt sind, kann das zu noch mehr Gefühlschaos führen. Neulich erst las ich einen Post einer Yogalehrerin, in der sie sich als lesbisch „outete“, wie lang hatte sie das mit sich herumgetragen und sich nicht getraut zu leben?
Outing?
Manchmal werde ich gefragt, wie das Outing meiner Kinder stattfand. Und irgendwie gab es da keins. Meine Tochter wollte, dass ich ihr ein Armband im Etsy Store bestelle, das ihre Bisexualität ausdrückt. Mein Sohn sagte mir ganz klar, ich bin pansexuell. Wie schon erwähnt, ich werde darauf noch irgendwann genauer eingehen. Ich möchte, dass meine Kinder einfach nur glücklich sind und sich frei fühlen. Sich ausdrücken können in ihrem Wesen. Und ich möchte allen Eltern den Rat mitgeben, ihren Kindern den Raum zu geben, sich in egal welche Richtung zu entwickeln.
Eben brachte mein Mann im Zimmer meine Tochter ihre neue Pride Flagge an. Leider schief. Kein Problem für meine Tochter, sie sagte nur trocken: “it was not supposed to be straight”. Genau!
P.S. Meine Kinder begrüßen sehr, dass ich darüber schreibe und haben sehr genau meine Worte gelesen und freigegeben.
x Madhavi
2 Comments
Ramona
23. Mai 2022 at 9:08Danke, dass du darüber schreibst.
Patricia
12. Juni 2022 at 13:35Sorry ich bin mit 55 auch schon „Oldie, but not goldy“ und musste bei cis/Pansexualität und den ganzen anderen großen Buchstaben „Queer steht für das Q in LGBTQIA+“ mich erst mal durchgooglen. Dabei dachte ich immer modern zu sein und aufgeklärt mit meinen lesbischen Freundinnen und homosexuellen Freunden..aber ich lerne nie aus