Column

Madhavi & das Leben // Was ich auf meiner Zugfahrt gelernt habe

10. Oktober 2020
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Am Montag fuhr ich mit dem Zug nach Warschau. Ich liebe diese Stadt, die nur sechs Stunden mit der Bahn von Berlin entfernt ist. Seit Februar hatte ich Berlin nicht mehr verlassen und hatte es eigentlich auch nicht vor. Doch dann kamen zwei Termine, die ich dankend annahm. Ich buchte mir ein schönes Hotel in der Innenstadt und war froh, dem Alltag für ein paar Tage zu entkommen.

Zuerst saß ich die ersten zwei Stunden einsam und träumend im Zugabteil. Irgendwann füllte es sich mit gut erzogenen Menschen, die artig beim Betreten des Abteils „Guten Tag“ auf Polnisch murmelten. Ich bin immer wahnsinnig glücklich, wenn ich höfliche Menschen treffe, die auch noch lächeln. In Berlin eine Seltenheit. Ich habe mich längst daran gewöhnt, lächel aber immer noch fremde Menschen an, die mich dann anschauen, als wäre ich nicht ganz bei Trost.

Wenn mehrere Leute im Abteil sind, kann es schon mal vorkommen, dass die eine oder andere Ausdünstung zum Ausdruck kommt. Hier war es eine Mischung aus Zwiebel und Fleisch. Wie so oft, wenn ich mit der Bahn fahre. Ich bin sehr empfindlich, wenn es nach Fleisch riecht. Sehr.

Um die gute Stimmung zu erhalten, holte ich mein klitzekleines Fläschchen Pfefferminzöl aus der Tasche. Pfefferminze hilft mir immer sehr bei blöden Gerüchen und eigentlich kann sich damit jeder arrangieren.

Ich wollte nur einen Tropfen in meinen Händen verreiben, als ich bemerkte, dass gar kein Zwischendeckel auf der Flasche ist. Somit landete der ganze Inhalt in meiner Handinnenfläche und auf meiner Hose. Immerhin passen 20 Tropfen in so eine kleine Flasche, viel zu viel auf einmal, um die gute Stimmung zu erhalten.

Da ich kein Polnisch spreche und niemand Englisch oder Deutsch verstand, versuchte ich mich mit Händen und Füßen für das Dilemma zu entschuldigen. Am liebsten wäre ich im Boden versunken. Der Raum war eine einzige Pfefferminzwolke.

Doch niemand schien es zu stören. Ich war total erstaunt, sie rümpften nicht mal die Nase. In Deutschland hätte man den Schaffner geholt und mich aus dem Zug geworfen. Ich merkte mal wieder, wie Deutsch ich bin. Ich rege mich ständig über Leute in Zügen oder Bussen auf. Andere regen sich stets über andere auf. Ich war so dankbar, dass ich immer noch freundlich angelächelt wurde. Denn es war mir echt unangenehm.

Der Herr gegenüber tippte ununterbrochen auf seinem Telefon herum, mit Ton, klappklappklapp, schaute YouTube Filmchen in einer Lautstärke, über die ich mich nach meiner Misere nicht mehr aufregen durfte. Alle im Raum hatten nun „einen gut“ bei mir. Dann schlief mein Nachbar ein und klang zwei Stunden lang wie eine Kreissäge, doch auch hier sagte niemand etwas. Im Normalfall hätte ich ihn wahrscheinlich mit bösem Blick aufgeweckt und zur Vernunft ermahnt. Nun ärgerte ich mich nur noch darüber, dass ich meine schallisolierenden Kopfhörer nicht eingepackt hatte.

Was ich von dieser Zugfahrt gelernt habe:

Es ist sehr freundlich, Menschen, die ungeschickt sind, nicht auszuschimpfen, zu ermahnen, oder böse und genervt anzustarren.

Es ist nützlich, sich nicht aufzuregen, wenn es sich vermeiden lässt. Kostet nur Energie und macht tiefe Falten.

Ein verständnisvolles Lächeln zu erhalten, wenn man es absolut nicht erwartet, tut so gut.

#staytrue

Madhavi

Madhavi Guemoes
Madhavi Guemoes dachte mit 15, dass sie das Leben vollständig verstanden habe, um 31 Jahre später zu erkennen, dass dies schier unmöglich ist. Sie arbeitet als freie Autorin, Aromatherapeutin, Podcasterin, Bloggerin und Kundalini Yogalehrerin weltweit und ist Mutter von zwei Kindern. Madhavi praktiziert seit mehr als 30 Jahren Yoga - was aber in Wirklichkeit nichts zu bedeuten hat.
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